Fortgeschrittene Unordnung auf kinderalltag.de

Fortgeschrittene Unordnung

Der spanische Nationaldichter Miguel de Cervantes hat Anfang des 17. Jahrhunderts eine Geschichte veröffentlicht. Darin geht es um einen Mann, der sich für einen Ritter hält, dabei aber wenig erfolgreich ist. Die Rede ist von Don Quijote, dem Protagonisten und Titelhelden des Buchs, das 2002 zum besten Buch der Welt gewählt wurde. In einer, im eigentlichen Buch nicht so unbedingt zentralen Szene, entscheidet sich Don Quijote den Kampf mit Windmühlen aufzunehmen und stürzt sich tapfer in die ausweglose Schlacht. Heute steht dieser Kampf Pate für den sprichwörtlichen Kampf gegen Windmühlen, der in unseren Sprachgebrauch eingezogen ist. Die Phrase beschreibt einen aussichtslosen Kampf, den man allerdings mit Überzeugung führt, weil man eben selbst nicht erkennt, dass es sich nur um Windmühlen handelt. Im Roman bemüht sich Sancho Panza, der Diener von Don Quijote, vergeblich darum, seinen Herrn auf den Irrtum hinzuweisen. Wer einen Kampf gegen Windmühlen kämpft, braucht genau so einen beherzten und wohlwollenden Begleiter, der hilft, wieder alles richtig zu sehen. Soweit die Theorie. In der Praxis kann ich stolz von mir sagen, dass ich Tag für Tag gegen Windmühlen kämpfe, das auch weiß, es aber trotzdem nicht ändere. Es geht um die Unordnung unseren vier Wänden und meine Rolle in der Opposition.

Einigkeit

Drei relativ junge Geschwister leben in einer recht angespannten Situation. Zumindest meine Drei sind zwar durchaus harmonisch, haben aber trotzdem jede Menge Konflikte. Es geht meist um Futterneid in den unterschiedlichsten Variationen. Eifersucht, vermeintliche Benachteiligungen, oder einfach nur schlechte Laune sorgen dafür, dass zwischen meinen Kindern oft dicke Luft herrscht. Es fliegen oft und heftig die Fetzen und ich habe alle Hände voll zu tun, für Ruhe und Ordnung zu sorgen. Über die Jahre haben sie sich natürlich entwickelt und die Streitereien haben heute ein anderes Niveau, aber eigentlich hat sich nichts geändert. Zwei gegen Einen, oder jeder gegen jeden steht auf der Tagesordnung. In ihrer Tagesgestaltung sind die Kinder auch völlig unterschiedlich und gehen, dem Alter entsprechend, bereits ihre eigenen Wege. Da gibt es kaum Überschneidungen mit den Geschwistern. Einigkeit ist also selten. Meist ist das Gegenteil der Fall. Bis auf einen Lebensbereich. Da haben die Drei nicht nur die völlig gleiche Meinung, sie verhalten sich auch gleich. Dieser Lebensbereich ist die Ordnung, oder eigentlich die Unordnung. Und damit trete ich auf den Plan.

Ordnung ist das ganze Leben

Ich habe den Luxus, keinen Beruf ausüben zu müssen. Stattdessen bin ich Hausfrau und Mutter. Bei drei Kindern ist das meistens mehr als ein Fulltime-Job und die Vereinbarung mit meinem Mann, dass er arbeitet und ich mich tagsüber um den Haushalt und die Kinder kümmere, hat sich bewährt. Also ist mein Lebensmittelpunkt identisch mit meinem Arbeitsplatz. Wer viel Homeoffice macht, der weiß, dass das nicht immer ganz ideal ist. Es ergibt Sinn, die beiden Bereiche örtlich zu trennen. Ich habe mich damit abgefunden, dass ich mitten am Arbeitsplatz meine Freizeit genieße. Ein Abschalten ist mir allerdings noch nie gelungen. Ein wichtiger Teil meines Jobs ist die Ordnung. Ich weiß, dass man das Thema auch sehr entspannt angehen kann. Sollen die Kinder doch eine Kiste nach der anderen umkippen und Spielzeug über den ganzen Boden verteilen. Abends geht man dann mit der Schneeschaufel durch, oder schiebt einfach alles notdürftig zur Seite, damit sich die Kinder das Umkippen am nächsten Tag sparen. Ich kann das nicht. Liegt etwas da, wo es nicht hingehört, dann werde ich nervös. Man könnte natürlich unangenehmere Ticks haben, aber auch wenn mein Ordnungssinn – böse Zungen nennen es Ordnungswahn – erfreuliche Folgen hat, hat er auch massive Nebenwirkungen.

Ordnungswahn

Meine Kinder haben in dieser Hinsicht erschreckend wenig gelernt, sind sich in ihrem Verhalten aber komplett einig. Greift man zum Schokoriegel, dann fällt das Papier nach dem Genuss einfach zu Boden, oder bleibt dort liegen, wo gegessen wurde. Man könnte jetzt natürlich einhaken und mit den Kindern jedes Mal in eine pädagogische Grundsatzdiskussion einsteigen. Man könnte aber auch, wie Don Quijote losstürmen und sich um die vergessene Verpackung kümmern. Dass das mir Stress macht, kann man sich vorstellen. Gleichzeitig macht es mich aber auch irgendwie froh. Es hat etwas Beruhigendes und Befriedigendes, wenn Dinge einen Platz haben und man sie dorthin zurückträgt. Ich kämpfe also gegen die Unordnung, wie der alte spanische Edelmann gegen Windmühlen, statt das Problem an der Wurzel zu packen. Ich muss mir dazu vielleicht einmal eine bessere Strategie überlegen. Vorläufig wird mir das aber sicher nicht gelingen. Dafür hänge ich zu sehr an meinem ständigen Aufräumen. Allerdings hat sich mein Betätigungsfeld in den letzten Jahren, genauso wie die Hauptverursacher, deutlich verändert.

Ein ruhiger Start

Das Zusammenleben mit Kindern beginnt in einer Phase, in der sie sich kaum bewegen. Sogar das Weinen ist irgendwie süß und der Windelinhalt hat einen recht angenehmen Geruch. Davon bleibt im Laufe des Windellebens nichts übrig. Am liebsten würde man so einen kleinen Windelprinzen mit Gasmaske wickeln. Aber man will das Kind ja nicht verschrecken. Die Unordnung hält sich bei den Kleinsten ziemlich im Rahmen. Nachdem das Kind selbst sich nicht bewegt, hat es keinen Aktionsradius. Auch ist es am Beginn noch nicht in der Lage, Spielzeug festzuhalten. Das ändert sich aber rasch und nach ein paar Monaten will das Kind sein Babyspielzeug nicht mehr festhalten, sondern hat reichlich Spaß damit, es durch die Gegend zu werfen. In der Phase startet eine lange Phase des Hinter-dem-Kind-Her räumen. Reine Erziehungsfrage, werden viele sagen und ich gratuliere ihnen ganz herzlich, wenn sie es schaffen, dass ihre Kinder ihren Dreck und ihr Spielzeug selbstständig an die vorgesehenen Plätze tragen. Bei mir ist da in der Erziehung wohl etwas falsch gelaufen. Ich kann einfach nicht sehen, wie etwas am falschen Platz liegt. Ich muss es einfach wegräumen.

Neue Herausforderungen

Hat man dem Nachwuchs erst einmal beigebracht, dass man sich bereitwillig dafür zuständig erklärt, Ordnung in das Leben der Familie zu bringen, dann startet eine Entwicklung, die über Jahrzehnte geht. Ist es zuerst das Babyspielzeug, das in einem Umkreis von 1 bis 2 Metern rund um das Baby liegt, ändert sich der Aktionsradius und damit der potenziell kontaminierte Raum. Irgendwann, nach gar nicht allzu langer Zeit ist es dann so weit und die gesamte Wohnung ist vor den Kindern nicht mehr sicher. Allerdings beobachte ich aktuell so etwas, wie eine Trendumkehr. Dinge durch die Wohnung schießen, macht den Kindern heute keinen Spaß mehr. Zwar gibt es Spielzeuge, die immer noch aufgebaut werden und häufig nicht wieder weggeräumt werden, aber der Aktionsradius wird wieder kleiner. Diese neue Entwicklung ist einerseits erfreulich. Auf der anderen Seite hat sie auch negative Seiten.

Neue Entwicklung

Die Kinder können sich heute problemlos innerhalb, aber auch außerhalb der Wohnung, bewegen. Als Baby konnten sie das nicht. Als beginnende Teenager wollen sie das nicht mehr. Stattdessen hat jedes von ihnen einen festen Platz. Dort fühlen sie sich wohl und verbringen Zeit alleine. Dabei machen sie eine ganz neue Form von Dreck. Statt Spielzeug zu verteilen, essen, oder knabbern sie, oder chillen einfach nur. Für mich bedeutet dieses Verhalten eine Neuerung. Die Quantität der Unordnung hat abgenommen. Dafür scheint auch die Qualität der Unordnung sich verändert zu haben. Kinder machen weniger, aber schwerer zu beseitigende Unordnung. Erschwerend kommt hinzu, dass die Kinder einen starken Willen haben und es nicht immer mögen, wenn ich mich in ihren Zimmern austobe. Also muss ich die Zeit am Vormittag abwarten und meine Ordnung wieder herstellen, während die Kinder in der Schule sind. Erstaunlicherweise haben sie sich darüber noch nie beschwert. Mein Mann ist da anders. Wenn ich seinen Arbeitsplatz in Ordnung bringe, dann hat das Konsequenzen. Für ihn, dass er nichts mehr findet und für mich, dass er etwas weniger entspannt ist, als sonst.

Teenager-Putze

Jedes Kindesalter sorgt für eine andere Art von Unordnung. So wie die Kinder sich am Beginn der Pubertät innerlich unaufgeräumt und durcheinander fühlen, so sieht auch ihr Zimmer und ihr Umfeld aus. Auch in den Schultaschen macht sich in diesem Alter mehr und mehr Unordnung breit. Es kommen viele neue Lebensbereiche hinzu, in denen sie plötzlich unbeaufsichtigt sind. Was in den ersten Jahren die Lehrerin macht, müssen die beiden Älteren schon alleinverantwortlich machen. Außerdem mögen sie es nicht, wenn man in ihre privaten Bereiche eindringt. Das alles macht es mir und meinem Ordnungssinn – manche nennen es Ordnungswahn – ziemlich schwer. Statt Spielzeug zu schippen, muss ich jetzt vorsichtig abwägen, was wegkann und was tatsächlich Kunst ist.

Ordentliche Erziehung

Meine Kinder sind in puncto Ordnung, vielleicht ein wenig verwöhnt. Eine Mitarbeit ist relativ selten. Gleichzeitig kennen sie mich und meine Ambitionen aber mittlerweile sehr gut. Das heißt, sie können, angesichts einer offensichtlichen Unordnung, gut abschätzen, was ich bei dem Anblick tun würde. Gleichzeitig versuchen sie auch, meine Reaktion abzumildern. Sie wissen, dass es mich glücklich macht, wenn Dinge ihren Platz wiederfinden und haben alle notwendigen Handgriffe schon etliche Male bei mir gesehen. Ich unterstelle also, dass meine Kinder ordentlich sein können. Dass sie es sein können, erlebt man in vielen alltäglichen Situationen. Besuchen wir ein Schwimmbad, legen Sie ihre Kleidung relativ ordentlich in das Kästchen. Oft sortieren sie Dinge und nicht selten bekomme ich von anderen das Feedback, dass meine Kinder aufgeräumt hätten, als sie zu Besuch waren. Es ist mir also gelungen, Ihnen ein paar Grundbegriffe der Ordnung beizubringen. Daheim merkt man davon im Alltag aber wenig.

Sancho Panza gesucht

Aktuell bin ich also auf verlorenem Posten. Die Unordnung hat sich im Laufe der letzten 10 Jahre immer wieder verändert. Nicht verändert hat sich, dass die Tatsache, dass meine Kinder es ausnutzen, dass ich ständig zur Stelle bin. Der Aufwand ist viel geringer und auch die Gefahr, auf etwas Unangenehmes zu steigen, hat sich reduziert. Statt Kiloweise Kinderspielzeug zu bewegen sind es heute die kleinen Dinge, die mich beschäftigen. Es ist benutzes Geschirr, Verpackungen und nicht zuletzt auch Schulsachen, die ich ständig irgendwo finde. Mein Kampf gegen die Windmühlen geht also weiter und anders, als Don Quijote fehlt mir der treue Diener, der sich im Hintergrund darum bemüht, dass mich mein Kampf nicht überfordert. Neben der physischen Unordnung muss ich mich heute auch mit fehlender Selbstorganisation auseinandersetzen. Bei drei Kindern gibt es grundsätzlich jede Menge Termine. Zahnärzte, Augenärzte und jede Menge anlassbezogene Termine. Dazu kommen unglaublich viele Schultermine. Nicht nur die Schularbeiten bedeuten Termine. Es sind auch Schulveranstaltungen, wie Elternabende, aber auch Musicalaufführungen und verschiedene Konzerte, die im Kalender stehen. Tagtäglich müssen die Kinder aber Hausaufgaben und die Vorbereitung auf unterschiedliche Tests im Griff haben.

Terminplanung

Es passiert leider nicht selten, dass eines meiner Kinder mir erzählt, dass es heute keine Hausaufgaben hätte. Daraufhin wird der Nachmittag für die schönen Dinge des Lebens genutzt. Irgendwann kommen sie dann vom Spielplatz wieder heim, oder lösen sich von einem Computerspiel und erkennen, dass es noch Hausaufgaben vom Vortag gibt. Also starten sie dann sehr spät damit, sich um ihre Aufgaben zu bemühen. Mehr als sie immer wieder daran zu erinnern, möchte ich auch nicht leisten. Es reicht, dass ich den Schularbeitskalender im Blick habe und ihnen spätestens eine Woche vor einer Schularbeit auf die Nerven gehe, weil ich sie ermahne zu lernen. Die tägliche Arbeit müssen sie aber alleine schaffen. Bei der Kleinsten checke ich natürlich jeden Tag das Mitteilungsheft und gehe mit ihr die Hausaufgaben durch. Die beiden Großen sind allerdings völlig autonom. Die Schule baut darauf auf, dass die Kinder reif genug sind, sich zu organisieren, also mache ich das auch. Die Lehrer informieren ja auch nicht mich, was sie von den Kindern erwarten. Also lebe ich damit, dass es regelmäßig passiert, dass ein Kind Last-Minute seine Aufgaben erledigt.

Freiraum geben

Tatsächlich lass ich diesen Lebensbereich ziemlich entspannt laufen. Wahrscheinlich liegt es daran, dass es keine direkte Auswirkung auf mich hat. Auch mein Mann hat eine ziemlich lange ToDo-Liste, die er gerne erst dann abarbeitet, wenn es fast schon zu spät ist. Auch da mische ich mich, mit wenigen Ausnahmen, nicht ein. Gelassen sehe ich hier die metaphorischen Windmühlen und erkenne, dass es nicht mein Auftrag ist, sie zu bekämpfen. Diesen Kampf müssen die Kinder alleine austragen. Allerdings sollte ich langsam lernen, diese Gelassenheit auch bei der Unordnung Einzug halten zu lassen. Wenn ich so weitermache, werden meine Kinder später im Leben alles rechtzeitig erledigen, daheim aber Kniehoch durch Abfall waten. Hier muss ich umdenken. Bis dahin werde ich aber wohl weiterhin für Ordnung sorgen und meine Tage damit verbringen, den Kindern zu folgen und alles aufzuheben, was sie fallen lassen. Ich muss mir da wirklich etwas überlegen.

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